A. Fleury (Hg.): Diplomatische Dokumente der Schweiz 22

Cover
Titel
Diplomatische Dokumente der Schweiz.


Herausgeber
Fleury, Antoine
Reihe
Band 22 (1.7.1961 bis 31.12.1963)
Erschienen
Zürich 2009: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Daniel Trachsler, Forschungsstelle für Sicherheitspolitik, ETH Zürich

Der neu erschienene Band 22 der «Diplomatischen Dokumente der Schweiz» (DDS) enthält 188 sorgfältig edierte und chronologisch geordnete Quellen zu den internationalen Beziehungen der Schweiz. Er deckt den Zeitraum zwischen Juli 1961 und Dezember 1963 ab. Die Schlüsseldokumente, die von Bundesratsprotokollen über interne Notizen und Exposés bis zu offiziellen Stellungnahmen reichen, wurden von der Forschungsgruppe der DDS um Prof. Antoine Fleury (Genf) und dessen Nachfolger Dr. Sacha Zala (Bern/Heidelberg) aus den Beständen des Schweizerischen Bundesarchivs ausgewählt. Den Überblick erleichtern eine knappe thematische Einleitung sowie ein Dokumentenverzeichnis, welches kurze Inhaltsangaben der präsentierten Quellen enthält.

Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, in 188 Dokumenten zweieinhalb Jahre schweizerischer Aussen-, Aussenwirtschafts- und Sicherheitspolitik auch nur annähernd umfassend abzubilden. Glücklicherweise ist dies nicht der Anspruch der schweizerischen Aktenedition, die unter dem Patronat der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) steht. Die DDS zielen vielmehr darauf ab, wesentliche Grundzüge der internationalen Beziehungen der Schweiz darzustellen, zentrale Themenfelder aufzuzeigen und ausgewählte, hinsichtlich ihrer Bedeutung oder ihres Beispielcharakters herausragende Dokumente einem interessierten Publikum zugänglich zu machen.

Sieben thematische Schwerpunkte stehen im vorliegenden Band im Zentrum: die europäische Integration, die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern, die Wirtschafts- und Finanzbeziehungen, die Konjunktur- und Migrationspolitik, die Sicherheitspolitik, die Aktivitäten im Bereich der Guten Dienste und des humanitären Engagements sowie die Beziehungen zu den internationalen Organisationen. Hinter der bemerkenswerten Absenz der Neutralitätspolitik auf dieser Liste steht die Überzeugung der Herausgeber, dass dieser Aspekt als Querschnittsthema in den gewählten inhaltlichen Schwerpunkten bereits zur Genüge abgedeckt wird.

Die verschiedenen Dokumente werfen Schlaglichter auf zentrale Aspekte der schweizerischen Aussenbeziehungen in den frühen sechziger Jahren. Weltpolitisch war diese Phase durch eine erhöhte Konfrontation der Supermächte im Kontext des Kalten Krieges gekennzeichnet. Die Krisen um Berlin (1958–1962) und Kuba (1962) führten der Weltöffentlichkeit die latente Gefahr einer nuklearen Auseinandersetzung drastisch vor Augen. Im August 1961 löste der Bau der Berliner Mauer im Westen eine Welle der Empörung aus. Der Schweizer Aussenminister Friedrich T. Wahlen befürchtete, dass dadurch in der BRD ein «moralischer Verrottungsprozess » ausgelöst werden könnte (Dok. 26). Der Anstieg der internationalen Spannungen führte dazu, dass der Bundesrat bereits 1961 über Massnahmen zur Kriegsvorbereitung beriet (Dok. 9).

Verhältnismässig reich dokumentiert wird im vorliegenden Band der schweizerische Assoziationsversuch bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Im Kontext des britischen Beitrittsgesuchs vom Sommer 1961, welches drohte, die Schweiz ihres bisher engsten integrationspolitischen Partners zu berauben, reichte Bern am 15. Dezember in Absprache mit den ebenfalls neutralen EFTA-Staaten Österreich und Schweden ein Assoziationsgesuch bei der EWG ein (Dok. 34). Ziel sei es, der Schweiz unter Berücksichtigung der neutralitätspolitischen Einschränkungen eine möglichst intensive Beteiligung an der wirtschaftlichen Integration zu ermöglichen, betonte Wahlen im November 1961 (Dok. 17). Die Bundesräte Ludwig von Moos und Paul Chaudet zeigten sich skeptisch. Sie befürchteten, dass eine Koordination mit Österreich und Schweden «nur abwärts führen könne» und die schweizerische Handlungsfreiheit übermässig einschränke. Weiter kritisierte von Moos 1961, das Gesuch um Aufnahme von Assoziationsverhandlungen sei «kein würdiger Schritt», man steche in See ohne zu wissen, wo man an Land gehen werde (Dok. 5, 30). Tatsächlich erlitt das Assoziationsprojekt Schiffbruch. Mit dem Veto des französischen Präsidenten Charles De Gaulle gegen einen britischen Beitritt im Januar 1963 war auch das Schicksal der Assoziationsgesuche der Neutralen faktisch besiegelt (Dok. 123, 125). Doch nachdem in der Schweiz im Verlauf der Vorabklärungen die Skepsis immer mehr gestiegen war, löste das Scheitern des Projekts innenpolitisch mehr Erleichterung als Bedauern aus (Dok. 136). Bis zu einem gewissen Grad kompensatorischer Charakter kommt dem praktisch zeitgleich erfolgenden Beitritt der Schweiz zum 1949 gegründeten Europarat zu (Dok. 120).

Erfolge konnte die helvetische Diplomatie im Bereich der Guten Dienste verbuchen. Hervorzuheben ist in erster Linie das Engagement Berns bei der Unterstützung der französisch-algerischen Verhandlungen, welche am 18. März 1962 im Abkommen von Evian mündeten. Mit seinem Engagement wollte das Eidgenössische Politische Departement (EPD) unterstreichen, dass die schweizerische Neutralität nicht mit Passivität gleichzusetzen war, sondern sich auch in aktiven Beiträgen zur Beilegung internationaler Konflikte manifestierte (Dok. 2). Ihre Bemühungen trugen der Schweiz sowohl den Dank der französischen als auch der algerischen Seite ein (Dok. 26, 55, 56). Ihre Guten Dienste stellte die Schweiz auch den USA zur Verfügung. Ab Januar 1961 vertrat sie als Schutzmacht die US-Interessen in Kuba, was in Washington sehr geschätzt wurde (Dok. 107, 121, 144).

Weitere interessante Themen, welche in diesem Band aufgeworfen werden, sind u.a. die Ausgestaltung der schweizerischen Entwicklungshilfe im Kontext der zunehmenden Überlagerung der Nord-Süd-Problematik durch den Ost-West-Konflikt, der Umgang der Schweiz mit der wachsenden Immigration von – vor allem aus Italien stammenden –Arbeitskräften oder die Reaktionen Berns auf den Vorschlag des Limited Test Ban Treaty (LTBT). Einen deutlichen Aktualitätsbezug weisen die Dokumente auf, welche sich mit den Bemühungen Washingtons zur Schliessung von Steuerschlupflöchern für in der Schweiz ansässige Tochterunternehmen von US-Firmen (Dok. 1) oder mit der französischen Kritik am schweizerischen Bankgeheimnis beschäftigen (Dok. 91).

Was das DDS-Projekt auch im internationalen Vergleich auszeichnet, ist die Datenbank Dodis und die dazugehörige Webseite (www.dodis.ch). Dodis stellt eine substanzielle quantitative und qualitative Aufwertung und Ergänzung der schweizerischen Aktenedition dar. Sie enthält insbesondere Quellen, welche in der gedruckten Ausgabe keine Aufnahme gefunden haben. Aktuell sind in der Datenbank rund 12 500 Dokumente verfügbar, wovon rund die Hälfte digitalisiert im PDF-Format vorliegen. Daneben enthält Dodis Informationen zu rund 28 000 Personen und 12 000 Organisationen sowie gut 1500 bibliographische Verweise. Benutzerfreundlich sind die Verknüpfungen mit den Einträgen des Historischen Lexikons der Schweiz (www.hls.ch). Zusätzliche Verbesserungen wie die Optimierung der Suchfunktionalität, eine verstärkte Verknüpfung mit weiteren digitalen Ressourcen, die Aufschaltung von thematischen Dossiers und eine Modernisierung der Datenbank sind derzeit in Planung.

Ein wichtiges Ziel der Aktenedition und der Datenbank ist es, der Erforschung der internationalen Beziehungen der Schweiz Impulse zu verleihen. In dieser Hinsicht ist der vorliegende Band – wie bereits die vorangegangenen Ausgaben – für ein Fachpublikum ein Eldorado. Wie die herausgegriffenen Beispiele gezeigt haben, eröffnen sich bei einer Lektüre zahlreiche lohnenswerte Forschungsfelder. Einen merklichen Zusatznutzen würde ein Ausbau der inhaltlichen Komponente generieren. Etwas ausführlicher konzipierte inhaltliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die es erlauben würden, die publizierten Dokumente in ihrem historischen Kontext zu situieren und die erste Hinweise auf Forschungsstand und -literatur böten, könnten die Attraktivität der Quellenedition und der Datenbank nicht nur für Historikerinnen und Historiker, sondern gerade auch für ein breiteres Publikum noch zusätzlich steigern.

Zitierweise:
Daniel Trachsler: Rezension zu: Diplomatische Dokumente der Schweiz, Band 22 (1. VII. 1961 – 31. XII. 1963). Zürich, Chronos Verlag, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 1, 2010, S. 156-159.